Richtung Norden (… und dann immer geradeaus)
Wir schreiben November, es ist Donnerstag kurz vor 20.00 Uhr; um uns herum die Lounge eines typisch nordamerikanischen Bahnhofes in Winnipeg. Der Winter hat Einzug gehalten; überaus moderate 9 Grad Minus zu dieser Jahreszeit lassen „Alt – Eingesessene“ dennoch vorsichtig nach vorn blicken.
„Das müsste doch eigentlich viel schlimmer sein…“ (Dass in diesem Winter tatsächlich nichts Aufregendes mehr geschehen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen).
Unser Platz in der Lounge hatte jeden aus der Gruppe bis zu diesem Moment $ 418,- gekostet, eine Ausgabe, die liebe Mitmenschen aus unserer Gemeinde in den vergangenen Tagen mit „Wahnsinn“, … „Ihr werdet Euch noch wundern“, … „Wie kann man nur“, … „Das werdet Ihr bereuen“, … „Das wäre mir viel zu unbequem“, … “ Da habt Ihr Euch aber einiges vorgenommen …“ kommentierten.
Die „Wahnsinnigen“ waren in diesem Fall 11 Shiloraner, die – geboren aus der Erkenntnis eines Einzelnen, ein lang geplantes und immer wieder verschobenes Vorhaben aufgrund der bevorstehenden Rückversetzung nach Deutschland („Wo bleiben die Ideen für eine Verlängerung?“) nicht länger hinauszögern zu können – den Entschluss gefasst hatten, eine Eisenbahnfahrt von „lächerlichen“ 33 ½ Stunden Dauer – natürlich einfache Fahrt – auf sich zu nehmen, um einem überaus interessanten Lebewesen dieser Region die Aufwartung zu machen.
Dabei gibt es diese Wesen im Zoo von Winnipeg.
Kenner der Szene wissen natürlich sofort, dass in diesem Fall nur von dem Polar Bear die Rede sein kann.
Dieses nette, zuvorkommende und schüchterne Tier findet man zu dieser Jahreszeit in Churchill, Manitoba, direkt an der Hudson Bay.
Man erreicht diesen Ort als „Otto – Normalverbraucher“ auf dem Landweg im Zuge des Highway No. 10 über Dauphin, Swan River, The Pas und Thompson; als „Exoten“ wie wir aber auch mit der kanadischen Eisenbahn – VIA RAIL – auf der 2485 km langen Schienenverbindung über die Nachbarprovinz Saskatchewan.
Wie schon erwähnt, starteten wir an besagtem Donnerstag um 22.00 Uhr auf dem Bahnhof in Winnipeg. Vorangegangen war die obligatorische – ich kann sie schon singen – zweistündige, landschaftlich reizvolle und abwechslungsreiche Autofahrt über den Highway No. 1 von Shilo.
Wir, das waren: Wolfgang Schröter mit Ehefrau Magda und Tochter Kathrin (Hut ab vor dem Durchhaltevermögen eines 12-jährigen Mädchens und der Leidensfähigkeit manch kanadischer Fahrgäste), Friedrich Schleier, Christine Horz, Michael Frank (der mit dem Rucksack voller Verpflegung tanzt), Thomas Eberius (ein lebendes Beispiel für Völkerverständigung), Dieter Hertlein, Boris Colberg (in der ständigen Auseinandersetzung mit den „wahren“ Dingen des Lebens), Norbert Wilander (Bayern ist überall) und der Verfasser als Anstifter dieser landeskundlichen Weiterbildung. Die für $ 239,- erworbene Zugangsberechtigung zur VIA RAIL bescherte uns einen Sitzplatz in einem Großraumwagen, der uns in den nächsten 1 ½ Tagen Wohnraum, Schlafraum, Freizeitzentrum und leicht überschaubarer Ort für ausgedehnte Spaziergänge sein soll. Zu diesem Zug gehören außerdem ein Gepäck-, ein Speise- und ein Schlaf-/Liegewagen.
Nachdem jeder seinen Platz gefunden hatte – man setzte sich ungefähr dreimal um, der gute deutsche „Herdentrieb“ sorgte letztlich jedoch dafür, dass man zusammenblieb (natürlich am zuerst gewählten Platz) – kam der erste freundliche Bahnangestellte – in Manitoba sind alle Menschen nett – und überschüttete uns mit Sicherheitsinstruktionen zu Brandabwehr, Hochwassergefahr mit anschließender Evakuierung auf freier Strecke sowie möglicher schlafwandlerischer Ausschläge durch den Sitznachbarn. Muss ich jetzt bei Hochwasser das Fenster einschlagen oder das Rollos herunterziehen? Soviel habe ich jedoch gelernt und später auch immer wieder bestätigt bekommen – der nette Bahnangestellte wird sicherlich nicht böse sein, wenn ich bei einer möglichen Entgleisung des Zuges zum Feuerlöscher greife.
Der Zug rollte hinaus in die Nacht – zunächst über Portage la Prairie in Richtung Westen, schwenkte dann nach Nordwesten in Richtung Dauphin ein, um sich zwischen dem Riding Mountain Park und dem Duck Mountain Park der Provinzgrenze von Saskatchewan zu nähern.
Soll er doch, draußen ist es dunkel und selbst für relativ ausgeruhte Reisende ist das eigene Gesicht im Seitenfenster des Waggons ein auf Dauer ernüchternder Anblick.
Nach einer mehr oder weniger durchwachten Nacht erreichte der Zug im Morgengrauen den ersten größeren Halt in The Pas. Die üblichen Versorgungstätigkeiten wurden absolviert. Fahrgäste wechselten, Fracht wurde umgeladen und – wertvolles Wasser wurde nachgetankt. Die sanitären Einrichtungen dieses ansonsten mit allem Komfort versehenen Zuges kamen regelmäßig an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und der nächste Knick war unerreichbar.
Nach einer ca. einstündigen Pause ging die Fahrt weiter in Richtung Thompson. Mittlerweile befanden wir uns in einer Region von Manitoba, in der man Lebewesen – vor allem menschliche – zunehmend mit der Lupe suchen musste. Die Landschaft wirkte zwar auf den ersten Blick eintönig, zeigte aber im Detail zu jeder Zeit die wahre Schönheit einsamer kanadischer Landstriche.
Nach dem nächsten Halt in Thompson – dies ist die Region in der Straßen äußerst selten sind – ging es hinaus in die Tundra. Dem Betrachter öffneten sich unendliche Weiten, Wälder durchschneiden die Landschaft und erstmalig sieht man die Ergebnisse aus Zeitungsmeldungen und Nachrichten vergangener Jahre. In diesem Teil Manitobas wüteten 1995 nahezu 700 Waldbrände.
Am Samstagmorgen um 07.30 Uhr rollten wir in den Bahnhof von Churchill. Wenig ist geblieben von dem einst sehenswerten Gebäude. Der Zahn der Zeit und die extremen Witterungsbedingungen der Region hatten eindeutige Spuren hinterlassen. Wir wurden empfangen von einer Vielzahl von Reiseveranstaltern, die ihre jeweiligen Reisegruppen direkt am Zug abholten, um diese – ohne Verzug zum Objekt ihrer Begierde zu fahren. Auf der Fahrt durch den Ort stiegen ortsansässige Mitfahrer zu, an einen Restaurant wurde unsere Verpflegungsration für die Tour aufgenommen und wenige Augenblicke später erfolgte das Umsteigen in den eigentlichen „Tundra-Buggy“. Dies sind sehr oft umgebaute ehemalige Schulbusse oder auch Vans, deren auffälligstes Markenzeichen überdimensionale Ballonreifen sind. Dieser technische Trick sorgt für wesentlich mehr Fahrzeughöhe und somit u.a. für die nötige Distanz zu den Eisbären.
Nach wenigen Augenblicken wurden wir zum ersten Mal von einer Eisbärenmutter und Ihrem Jungen aus der beschaulichen Schaukelei des überhöhten Fahrzeuges in die Realität versetzt. Da jeder schon irgendwann einmal gehört hatte, dass man -trotz langer Anfahrt – keine Garantie habe, auf Eisbären zu treffen, wurde fotografiert auf „Deubel komm´raus“. Dass wir am Ende unserer Tagestour auf nahezu 50 Eisbären treffen würden, war zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Eisbär zu dieser Jahreszeit sein Dasein als Pflanzenfresser in den Sommermonaten aufgegeben hat und nunmehr, von Fleischgelüsten geplagt, auf das Zufrieren der Hudson Bay wartet, um über die Eisschollen auf Robbenjagd gehen und sich mit den nötigen Fettreserven versorgen zu können.
Die ganze Macht kanadischer Gesetze trifft denjenigen, der Eisbären mit jeglicher Art von Verpflegung anlockt, um möglicherweise eine bessere Ausgangslage für optimales Fotografieren zu erreichen. Als allen Menschen wohlgewogener „Europäer im Ausland“ entsprach ich so der Bitte einer Kanadierin, mit ihrem angebissenen Apfel einen Eisbären vor ihre Kamera zu locken. Da alle Fahrgäste vor Beginn der Fahrt entsprechende Hinweise von unserem Tour-Guide erhalten hatten, hätte mich dieses Vergehen bis zu $ 15.000,- (Risiko) kosten können. Wer unbedarft in diese Falle tappt, zahlt im Normalfall $ 9.000,- weniger.
Die Begründung für diese Verfahrensweise liegt auf der Hand. Churchill ist in unmittelbarer Nähe und die Gefahr, dass Eisbären wieder an Gewohnheiten der Zivilisation herangeführt werden, ist schlichtweg zu groß, zumal die Bevölkerung Churchills immer wieder leidvolle Erfahrungen mit Eisbären in Wohnsiedlungen sammeln musste.
Nach 8-stündiger Rundfahrt und Begegnungen mit anderen Touristen, einem Filmteam des ZDF und, im Gegensatz zu einem anderen Tundra-Buggy, ohne Einbruch in eine Eisdecke, lieferte uns der Tour Guide in Downtown Churchill ab. Sein Versuch uns auf dem Rückweg eine Karibuherde zu zeigen, ist leider gescheitert. Trotzdem haben sich die $ 179,- für diesen Tag in jeder Beziehung gelohnt.
Wo ist hier Downtown? Zwei oder drei Giftshops, die gleich Anzahl an Restaurants und um uns herum Kälte und einsetzende Dunkelheit. Also wird die Zeit bis zur Rückfahrt um 22.00 Uhr mit Einkäufen und dem Besuch eines Restaurants verbracht.
Wer unter keinen Umständen eine Beziehung zur Kälte oder zu Eisbären hat, dem sei an dieser Stelle gesagt, dass ein Besuch Churchills in den Sommermonaten gleichermaßen attraktiv ist, da zu dieser Zeit die Belugawale in die Hudson Bay ziehen. Nach Aussagen von Einheimischen sollen diese sogar so zutraulich sein, dass man mit ihnen zusammen schwimmen kann.
Nach Aussagen von Einheimischen sollen diese sogar so zutraulich sein, dass man mit ihnen zusammen schwimmen kann.
Nachdem Tom (Eberius) auch in diesem Ort einen und zwar seinen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte – die Kellnerin liebte ihren Stoffeisbären einfach zu sehr – startete der Zug pünktlich um 22.00 Uhr zur Rückfahrt nach Winnipeg. Mittlerweile wussten wir, was 33 ½ Stunden Bahnfahrt bedeuteten. Der Zug war unser zweites Zuhause und „Jimmy“ der Zugkellner hätte unser Patenkind sein können. Da wir Churchill an dem letzten möglichen Wochenende besucht hatten, war der Zug überfüllt und das Gerangel um Sitzplätze dem Frühverkehr in der guten deutschen S-Bahn gleichzusetzen. Wir haben gesiegt!
Die Fahrt verlief ähnlich den Erlebnissen bei der Anreise, wenn, ja wenn uns nicht zwischen Thompson und The Pas in der Reisetasche des Zugschaffners der „Flyer“ eines in The Pas ansässigen Pizzabäckers aufgefallen wäre. Das Pech für den Schaffner bestand zudem noch darin, dass er Deutschen wohlgesonnen war und sein Handy greifbar hatte. Tom´s unbegrenzter Hang zur Völkerverständigung führte letztlich dazu, dass mitten in der Tundra – bei voller Fahrt voraus – eine Pizzabestellung über den Äther ging. Für Europäer unverständlich, wurden wir ca. 3 Stunden später im Bahnhof von The Pas von einem netten Kanadier empfangen, der hinter seinen Pizzapaketen kaum zu erkennen war.
An dieser Stelle stelle man sich vor, dass zwischen Hannover und Kassel eine Pizza geordert und dann in Stuttgart Hauptbahnhof, Gleis 3 ausgeliefert wird.
Dass wir die Pizza dann auch noch im Zugrestaurant verspeisten und die Reste mit dem Zugpersonal teilten, sei nur am Rande erwähnt.
Am Montagmorgen um 08.00 Uhr hatte Winnipeg uns schließlich wieder. 82 Stunden Abenteuer pur hatten uns entlassen und werden sicherlich eine bleibende Erinnerung sein, zumal der Urlauber aus Deutschland für den gleichen Erlebniswert mindestens 3.000,- DM zahlen muss.